Wie das Rheingauviertel in Berlin Plastikfrei werden soll

Eine Initiative von Händlern in Wilmersdorf sagt Plastikmüll den Kampf an. Mit kleinen Schritten sollen auch die Kunden sensibilisiert werden. – Berliner Morgenpost vom 4. November 2019

Berlin. Der Plastikmüll im Rheingauviertel soll weg. Das hat sich die Interessengemeinschaft (IG) Netzwerk Süd-West zu Ziel gesetzt. Dafür wollen viele der Händler in der IG nicht nur in ihren Läden sorgen, dafür wollen sie auch ihre Kunden sensibilisieren. „Wir haben festgestellt, wenn man mit den Leuten redet und ihnen andere Möglichkeiten aufzeigt, ist die Bereitschaft groß, sich umzustellen und das Verhalten zu ändern. Vor allem, wenn es keine Komfort-Einbußen gibt“, sagt die Vorsitzender der Initiative, Tanja Fügener.

Konzept gegen Plastikmüll beim Wettbewerb Mittendrin Berlin

Überzeugt ist die IG davon, dass Umweltschutz und nachhaltiges Handeln nicht nur eine existentielle Notwendigkeit, sondern auch eine wirtschaftliche Investition sind. „Meist ist es ja so, dass Händler sich dem anpassen, was die Kunden wollen. Wir wollen den Weg andersherum gehen und unseren Kunden entsprechende Angebote machen“, sagt Fügener. Die Interessengemeinschaft, die sich aus kleinen und mittelständischen Unternehmen sowie einem Anwohnerverein zusammensetzt, hat ein Konzept entwickelt, für das Bezirksbürgermeister Reinhard Naumann (SPD) die Schirmherrschaft übernommen hat. Damit haben sie es unter die letzten acht Bewerber des Landeswettbewerbs „Mittendrin Berlin“ geschafft. Es gibt Informationsveranstaltungen für Erwachsene, aber auch für Kinder, die spielerisch mit dem Thema umzugehen lernen sollen.

Ziel ist ein kiezgemeinschaftlicher „Unverpackt“-Laden

Viele der Händler in der IG haben bereits – zugeschnitten auf ihr Angebot – Ideen entwickelt, wie im Rheingauviertel künftig Plastikmüll reduziert werden kann. „Wir wissen, dass das vielleicht nur in kleinen Schritten vorangeht“, sagt Tanja Fügener. „Und wir wollen auch auf niemanden mit dem Finger zeigen, der vielleicht nicht so schnell und einfach umschalten kann.“ Als Beispiel nennt Fügener Lebensmittelgeschäfte, die an Hygiene-Vorschriften gebunden seien und vielfach nicht so einfach Alternativen für Folien oder andere Behältnisse finden könnten. „Wir mussten ja auch erst einmal lernen, dass es aus hygienischen Gründen nicht erlaubt ist, eine mitgebrachte Dose über den Tresen zu reichen, um beispielsweise Wurst oder Käse direkt hineinlegen zu lassen“, schildert Fügener ein Beispiel ihres gemeinsamen Lernprozesses. Als langfristiges Ziel schwebt der IG deshalb ein kiezgemeinschaftlicher „Unverpackt“-Laden vor. Auch einen Trinkbrunnen haben sie bei den Wasserbetrieben für den Rüdesheimer Platz beantragt, um die Zahl von Plastikflaschen zu verringern.

1. Friseur Matthias Jung-Kipsch hat eine Shampoo-Tankstelle

Binger Straße 19 In Matthias Jung-Kipschs Friseurladen steht eine ganze Batterie von Flaschen und Galeonen. Dass er sie vor den Spiegeln seines Salons aufgebaut hat, macht ihre Zahl optisch noch eindrucksvoller. „Da sind alle unsere Pflege und Styling-Produkte drin“, sagt der Friseur. Nachhaltigkeit sei schon immer sein Ding gewesen, darum habe er auch gleich zugegriffen, als ihm der Hersteller diese Möglichkeit offerierte. Wer in seinen Laden kommt, kann also nicht nur ein selbstgewähltes Gefäß mitbringen, um seine Lieblingsshampoos abfüllen zu lassen, sondern spart auch gleich noch 20 Prozent auf den Preis, den die bereits vorgefüllte Flasche kosten würde. „Besonders dieser Anreiz hat dazu geführt, dass die Aktion jetzt richtig toll läuft“, sagt Jung-Kipsch.

Auch von den Einmal-Dauerwell-Hauben verabschiedet sich der Figaro. „Wir haben jetzt auch eine alternative Haube dafür gefunden, die man waschen und sehr oft verwenden kann“, erzählt Jung-Kipsch.

2. Ron Mertiny geht gegen eingeschweißte Bücher vor

Rüdesheimer Straße 2 Viel Einfluss hat er nicht darauf, ob die Verlage die Bücher in Folie einschweißen oder nicht, räumt Buchhändler Ron Mertiny ein. Für viele ist das eben noch immer der beste Schutz für ihre Waren, bedauert er. Aber er sieht durchaus ein Umdenken in seiner Branche, weil solche Forderungen nicht nur von ihm, sondern auch von anderen Buchhändlern an die Verlage herangetragen würden. Einige hätten inzwischen umgedacht und alternative Lösungen entwickelt, sagt Mertiny und zeigt ein Buch, das statt im Plastikmantel mit einer schlichten Papierbanderole daherkommt. Doch auch bei Käufern sei da noch ein Bewusstseinswandel erforderlich, glaubt er. „Einige unserer Kunden lassen sich ein Buch aus der Folie nehmen, um darin blättern oder lesen zu können. Wenn sie es dann kaufen, greifen sie dann aber doch wieder zu einem eingeschweißten Exemplar“, sagt er.

Einen überraschenden Effekt hat er allerdings entdeckt, als er angefangen hat, für seine Plastiktüten zehn Cent zu verlangen. „Die Zahl derer, die dann wirklich eine nimmt, ist doch massiv zurückgegangen“, sagt Mertiny. Dabei gehe es den meisten gar nicht um die paar Cent, sie dächten einfach einen Moment nach und verzichteten dann. „Da gibt es also schon einen Bewusstseinswandel.“

3. Gabriele Joachim verpackt Tee in mitgebrachte Dosen

Rüdesheimer Platz 1 Sie hat die eleganteste, wenn auch nicht ganz neue Lösung, ihre Ware über den Tresen zu reichen. Gabriele Joachim wiegt ihre Tees auch in mitgebrachte Dosen ab. „Das ist eigentlich selbstverständlich“, meint sie. Wer keine hat, kann natürlich auch eine Dose aus ihrem reichen Sortiment erwerben, um sie dann eben beim nächsten Mal wieder mitzubringen. Doch die Teehändlerin hat auch noch etwas anderes entdeckt, um dem Plastikverbrauch Paroli zu bieten. Sie hat Tüten angeschafft, die in nur wenigen Wochen verrotten und zu 100 Prozent biologisch abbaubar sein sollen, weil sie aus Maisstärke bestehen. „Ich sage meinen Kunden immer: ,Ihr müsst schnell heimgehen, damit die Tüte auch noch so lange hält“, scherzt Gabriele Joachim.

4. Désirée Gianella setzt für Frische auf Bienenwachs

Rüdesheimer Platz 1 Früher sei zwar auch das Butterbrotpapier mehrmals verwendet worden, um Pausenstullen transportfähig zu machen. Doch Désirée Gianella ist sich sicher, dass ihr Produkt das in Sachen Langlebigkeit noch deutlich toppen kann. In ihrem Geschäft „Grashüpfer“ verkaufen sie und ihre Mitarbeiterin Jacqueline Franke „Bee’s Wrap“. Dahinter verstecken sich Baumwolltücher, die mit Bienenwachs, Baumharz und Jojoba-Öl beschichtet sind. „Das ersetzt ganz wunderbar Alufolie und Frischhaltefolie“, erklärt die Geschäftsfrau.

„Man kann damit super Käse, Gemüse und eben auch Brote einpacken“, sagt sie. Außerdem könnten die Tücher auch sehr gut zum Abdecken von Schalen und anderen Gefäßen verwenden werden, indem man die Ränder einfach mit der Wärme seiner Hände versiegelt. Die „Bee’s Wrap“ können mit kaltem Wasser gereinigt und sogar wiederbeschichtet werden. Auch Zahnbürsten aus Bambus gibt es im „Grashüpfer“. „Die Borsten sind aber aus Plastik“, bedauert Désirée Gianella. Da habe man wohl noch nichts Geeigneteres gefunden.

5. Jasmin Waga macht aus Schultüten Kuschelkissen

Rüdesheimer Platz 1 Eigentlich ist ja schon ihr ganzer Laden eine Art Ode an die Nachhaltigkeit. Jasmin Waga verkauft im „Wunschbaum“ Holzspielzeug und Kindermode, die ganz bestimmt nicht von Kindern in Fernost zusammengenäht worden ist, versichert sie. „Fair Trade und Umweltzertifizierungen sind mir wichtig für mein Sortiment“, sagt sie. So hängen unter dem großen hölzernen Wunschbaum, der der Namensgeber für ihr Geschäft ist, beispielsweise auch Kinderrucksäcke, die zumindest 50 Prozent aus recycelten PET-Flaschen hergestellt worden sind.

Ihr Nachhaltigkeitsknüller hat mit Plastikvermeidung aber eher nichts zu tun, mit Müllvermeidung aber schon. Jasmin Waga verkauft Schultüten aus Stoff mit einem Pappgerüst. Die Stücke werden individuell und nur auf Bestellung in Deutschland gefertigt und mit dem Namen des Schulanfängers versehen. Ist der erste Schultag vorbei und sind auch die Süßigkeiten verspeist, wird die Pappe einfach aus ihrem Stoffmantel genommen und von einem Kissen ersetzt. „Von so einem ganz persönlichen Kuschelkissen hat das Kind dann noch Jahre etwas“, sagt Jasmin Waga.

6. Frank Volkmann will sein Café Pappbecher-frei machen

Rüdesheimer Platz 1 Die Pappbecher für den Kaffee-to-go sind dem Besitzer des Café Lotte schon lange ein Dorn im Auge. „Aber die Leute sind daran gewöhnt, ihren Kaffee mitnehmen zu können“, sagt Frank Volkmann. Immerhin, so hat er festgestellt, verzichteten immer mehr inzwischen darauf, sich ihr Heißgetränk mit einem Plastikdeckel verschließen zu lassen, so der Kaffeehaus-Betreiber. So ganz reicht ihm das aber noch nicht. „Wir sind gerade dabei uns einem Pfandsystem für wiederverwendbare Kaffeebecher anzuschließen“, sagt Volkmann. Das bedeute, dass Kunden einen solchen Becher kaufen könnten und ihn immer wieder im Café Lotte oder auch in jedem anderen Café, das zum Verbund gehört, auffüllen lassen können. „Wer will, kann uns seinen Becher zum Spülen dalassen und einen neuen mitnehmen“, sagt Volkmann.

7. Julia Busch und Sven Klingele werben für Glas statt Plastik

Rüdesheimer Platz 11 Bei den Glasermeistern Julia Busch und ihrem Mann Sven Klingele dreht sich alles um Glas. Und Spaß machen soll das auch. Nicht von ungefähr haben sie ihr Geschäft am Rüdesheimer Platz auch so getauft: „Glas macht Spaß“. Plastik spielt in ihrem Metier also sowieso eher eine untergeordnete Rolle. Doch auch auch sie haben noch eine Lücke gefunden, die zu ihnen passt, die aber eine gute Alternative zu einem herkömmlichen Gebrauchsgegenstand aus Plastik ist. Sie verkaufen Trinkhalme aus Glas. „Die kann man nicht nur mehrmals verwenden, das Getränk schmeckt auch besser“, ist Julia Busch überzeugt.

Reinigen lassen sich die Glasröhrchen, die es mit Knick, aber auch ganz gerade gibt, einfach in der Spülmaschine. Hängt doch einmal ein etwas hartnäckigerer Cocktail-Rest im Glashalm fest, wird sogar noch ein Bürstchen dazu geliefert, um diesen Missstand zu beheben. Auch neben der Plastikvermeidung sind Klimaschutz und Energieeinsparungen Teil des Geschäftskonzepts der Glasermeister. Sie bieten für die typischen Berliner Kastenfenster, durch die es im Winter oft unangenehm ziehen kann, spezielle Isolierungen an. „Das spart erheblich Heizkosten“, sagt Klingele.

8. Tanja Fügener will ihre Zulieferer sensibilisieren

Laubacher Straße 36 Tanja Fügener ist Fotografin. Sie sagt: „In unserem Beruf hat sich ja schon so allerhand getan, seit es nicht mehr so vieler Chemikalien bedarf, um Fotos zu entwickeln.“ Das bedeute aber ja noch längst nicht, dass man damit sein Engagement einstellen müsste. Wie ihr Kollege Ron Mertiny stellt sich auch Fügener einem eher zähen Kampf mit ihren Zulieferern. „So kommen zum Beispiel die Bilderrahmen nicht nur in einem Karton voller Bläschenfolie, da ist auch nochmal jeder einzelne separat eingeschweißt“, sagt sie. Sie verfügt inzwischen über einen reichhaltigen und regen Schriftverkehr mit ihren Zulieferern. Da gibt es zwar beispielsweise ermunternde Schreiben wie aus dem „allcop Fotolabor aus dem Allgäu: „Benni Zürn unser QS-Leiter widmet sich bei uns mit großer Leidenschaft dem Nachhaltigkeitsthema. Er war begeistert von deiner Anfrage und stellt mal eine Übersicht zusammen, was wir alles schon in diese Richtung unternommen haben.“ Aber es gibt auch weniger enthusiastische Schreiben, die deutlich machen, dass noch ein langer Weg zum plastikfreien Rheingauviertel vor Tanja Fügener und der IG liegt: „Diese Folie war früher aus PVC, ist jetzt Polyolefine. Im Gegensatz zu PVC enthält es kein Chlorgas. Es kann einfach entsorgt werden. Komplett auf diese Folie verzichten scheint uns nicht möglich, weil eine schöne Präsentation unserer Produkte in den Regalen wichtig bleibt.“